Gemeinwohlökonomie

Eine Neudefinition von wirtschaftlichem Erfolg

Eindrücke und Erfahrungen

Im WiSe 2023/24 haben wir das Projekt “Nachhaltige Unternehmensführung und Berichterstattung” von Herrn Prof. Herzig begleitet, für das die Studierenden des M.SC. Ernährungswissenschaften (FB09) gemeinsam mit den Gemeinwohlökonomie-Berater*innen Christian Schwarzer und Vera Ronge zwei regionale Unternehmen dabei unterstützt haben, eine Gemeinwohl-Bilanz zu erstellen. Durch die Begleitung haben wir die Ideen und Visionen der Gemeinwohlökonomie (GWÖ) kennenlernen und beobachten können, wie sich diese in der Praxis gestalten. Hier kannst Du dir einen Überblick über die GWÖ, sowie ihr Kernstück, die GWÖ-Bilanz, verschaffen und letztlich regionale Perspektiven kennenlernen. Hierfür haben wir neben der Teilnahme an Projektsitzungen auch mit den Studierenden und Herrn Schwarzer gesprochen, um ihre Einschätzungen einzufangen.

Warum GWÖ?

Egal ob zunehmende Einkommensungleichheit, die ökologische Krise und das Überschreiten der planetaren Grenzen (im letzten Bericht des Stockholm Resilience Center waren sechs der neun planetaren Grenzen eindeutig überschritten) oder Sinnkrise – dass die gegenwärtige Form des Wirtschaftens nicht nur Vorteile mit sich bringt, sondern auch Schäden verursacht und diese zunehmend krisenhafte Erscheinungen annehmen, rückt immer stärker in das öffentliche Bewusstsein. Nach einer Studie der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 2008 wünschen sich 88% der Bevölkerung ein neues Wirtschaftssystem. 

Doch warum verursacht die gegenwärtige Form des Wirtschaftens Schäden?

Erfolg im ökonomischen Raum wird gemessen an monetären Erfolgsmesswerten. Monetäre Messwerte sind auf unternehmerischer Ebene der Finanzgewinn  oder auf nationalstaatlicher Ebene das Bruttoinlandsprodukt.  

Zur Steigung des Profits: Häufig ist es einfacher den Profit zu steigern, wenn andere Werte zugunsten des Profits aufgeopfert werden. Ein Unternehmen macht Abstriche in Sachen Nachhaltigkeit und steigert den Profit. Ein Unternehmen macht Abstriche in Sachen Menschenwürde und steigert den Profit. Unethische Produkte lassen sich günstiger verkaufen.

Monetäre Erfolgsmesswerte sind im Sinne der GWÖ nicht die wichtigsten Werte, stattdessen sind Menschenwürde, Ökologische Nachhaltigkeit, Solidarität und Soziale Gerechtigkeit, Transparenz und Mitbestimmung weitaus wichtiger – allerdings sind diese Werte nicht wettbewerbsrelevant. Ein Unternehmen mit einem größeren Finanzgewinn kann seinen Betrieb vergrößern, Geld in Werbekampagnen investieren oder andere Unternehmen aufkaufen. Ein Unternehmen mit einem Mehr an Nachhaltigkeit kann hingegen kein Imperium aufbauen, sondern hat ganz im Gegenteil meist eher Schwierigkeiten wettbewerbsfähig zu bleiben.

In einer Situation von ökonomischem Wettbewerb werden also die wettbewerbsrelevanten Werte optimiert, häufig zu Kosten der nicht wettbewerbsrelevanten Werte. So entsteht ein „Race to the Bottom“. Die gegenwärtige Form des Wirtschaftens zeichnet sich aus durch eine:

Schmale, werteexklusive Definition von unternehmerischem Erfolg: Die Optimierung monetärer Erfolgsmesswerte in Konkurrenz zu anderen Unternehmen  

Gemeinwohlökonomie

Was ist die GWÖ?

Die GWÖ ist ein alternatives und ethisches Wirtschaftsmodell und der Versuch die oben beschriebene Perversion des Wirtschaftens (Überoptimierung der monetären Erfolgsmesswerte/ Geldvermehren zum Zwecke des Geldvehrmehrens) umzukehren. Das Wirtschaften soll gebunden werden an das Gemeinwohl. Wirtschaftlicher Erfolg wird nicht mehr primär gemessen an monetären Erfolgsmesswerten. Anstelle des BIP rückt das Gemeinwohlprodukt und anstelle des Finanzgewinn rückt die Gemeinwohlbilanz. Die Gemeinwohlökonomie zeichnet sich aus durch eine:

Weite, werteinklusive Definition von unternehmerischem Erfolg: Die Optimierung einer Vielfalt von Werten (Menschenwürde, Ökologische Nachhaltigkeit, Solidarität und Soziale Gerechtigkeit, Transparenz und Mitbestimmung) in Kooperation mit anderen Unternehmen

Menschenwürde, Ökologische Nachhaltigkeit, Solidarität und Soziale Gerechtigkeit, Transparenz und Mitbestimmung

Was ist das Ziel des Wirtschaftens?

Unsere Verfassungen sind sich einig: Das Wirtschaften ist nicht nur Geldvermehrung zum Zwecke des Geldvermehrens. Das Geld ist nur Mittel zum Zweck. So steht in der Verfassung Bayerns:

„Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl, insbesondere der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle und der allmählichen Erhöhung der Lebenshaltung aller Volksschichten.“

Das eigentliche Ziel des Wirtschaftens ist der Beitrag zum Gemeinwohl. Wenn ein Unternehmen monetäre Erfolgsmesswerte optimiert auf Kosten der Werte des Gemeinwohls, so ist dies eine Perversion des Wirtschaftens und hat sein eigentliches Ziel verfehlt.

Die GWÖ-Bilanz

“Es soll ein neues Konzept des Wirtschaftens verbreitet werden und dadurch lassen sich nicht nur klassisch produzierende oder Dienstleistungsunternehmen mit dem GWÖ-Prozess zertifizieren, sondern auch andere Institutionen.“ – Studentin des Projekts

Nach eigenen Angaben stellt die ethische Bilanz das Herzstück der GWÖ dar, denn sie ist das strategische Instrument, um den Beitrag zum Gemeinwohl von Organisationen, Unternehmen, Gemeinden, Bildungseinrichtungen und NGOs zu messen. Im Vergleich zu anderen Zertifizierungen, wie z.B. den Corporate Social Responsibility Berichtsstandards, gehe die GWÖ-Bilanzierung stärker in die Tiefe und über gängige Standards hinaus:

“Ich habe den Eindruck, dass die soziale, gesellschaftliche Gemeinwohl-Ausrichtung schon etwas besonderes ist an der GWÖ […]”, erzählt eine Studentin des Projekts. 

Die Bilanzierung basiert auf der Gemeinwohl-Matrix, welche ein mehrdimensionales Indikatorensystem darstellt und die fünf Grundwerte der GWÖ sowie Berührungsgruppen  bzw. Stakeholder von Unternehmen beinhaltet:

Der Prozess der Bilanzierung…

… beginnt damit, dass sich Unternehmen, überwiegend solche, die das Thema nachhaltiges Wirtschaften bereits für sich entdeckt haben und damit identifizieren, zunächst z.B. auf Regionalgruppen-Treffen über die GWÖ informieren und orientieren. Ist entschieden, dass eine Bilanzierung durchgeführt werden soll, helfen Berater*innen, wie Herr Schwarzer und Frau Ronge, den Ansprechpartner*innen im Unternehmen dabei, Information zu sortieren, Daten zu koordinieren und letztlich einen Bericht zu erstellen. Der von den Unternehmen erstellte Bericht überprüft die GWÖ-Werte Menschenwürde, Solidarität und Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit sowie Transparenz und Mitbestimmung im Hinblick auf die Berührungsgruppe des Unternehmens und schätzt somit den eigenen Beitrag zum Gemeinwohl ein. Der Bericht wird daraufhin extern geprüft und je nach Erfüllungsgrad wird jedem Bilanzaspekt eine bestimmte Punktzahl zugeordnet, die zusammengerechnet das finale Gemeinwohl-Bilanz-Ergebnis abbilden.  

Die Berater*innen-Rolle haben in dem begleiteten Projekt die Studentinnen übernommen. Ihnen kam die Aufgabe zu, die Unternehmen zu interviewen, kritisch nachzufragen und die Brücke zwischen der GWÖ-Theorie und dem Unternehmensalltag zu schlagen. Mit ihnen haben wir uns auch über Vorteile des Bilanzierungsprozesses unterhalten. Zu diesen zählen sie die Sensibilisierung für Themen rund um Nachhaltigkeit sowie den Lernprozess, der sich aus dem Fokus auf Themen, die im Arbeitsalltag leicht untergehen, ergibt. Außerdem kommuniziere die Bilanzierung und schließlich das Zertifikat eine besonders ganzheitliche Art der Unternehmensführung und eine maßgebliche Bedeutung von Transparenz an andere Unternehmen und Kund*innen. 

“Und das ist der Schwerpunkt”, erzählt Christian Schwarzer, “damit wir als Verbraucher uns ein Bild davon machen können, wie das Unternehmen aufgebaut ist, wie es strukturiert ist und welche Eigentumsanteile es hat.” 

Wie kann man die GWÖ unterstützen?

Die Studentinnen und Herr Schwarzer räumen ein, dass die GWÖ noch einen langen Weg vor sich hat, um das dominante Wirtschaftsmodell zu werden. Dafür müssten laut Christian Schwarzer drei Punkte weiter voranschreiten: die politische Sichtbarkeit, bedeutende unternehmerische und rechtliche Vorteile für GWÖ-bilanzierte Unternehmen sowie mehr Präsenz und Aufklärungsarbeit an Universitäten und Schulen. Er persönlich sei aber besonders an der regionalen Arbeit interessiert: “Wenn wir mehr in Gießen und im Landkreis finden, die mitmachen, umso schöner.” 

Auch die Studentinnen sehen in der regionalen Vernetzung die Möglichkeit, das Interesse an nachhaltigen Wirtschaften bei den Bürger*innen zu wecken. Die Regionalgruppe Gießen tut genau das. Über Aktionen zum Thema Nachhaltigkeit, Wirtschaft und Ökologie im Umkreis von Stadt und Landkreis sind sie Anlaufstelle für alle Interessierten und tragen zur Bekanntmachung der GWÖ und ihrer Vision bei. Bei Interesse schaut gerne auf der Website der Regionalgruppe Gießen vorbei.

Quellen:

Die Inhalte dieser Seite wurden im Rahmen des Lehrforschungsprojekts von Eric Schaaf und Ricarda Schmidt erarbeitet.